Canan Dagdelen
Canan Dagdelen
modular CONSTRUCTION
Ausstellungseröffnung am Donnerstag,
den 12.11.2015, 19:00 – 22:00 Uhr
Ausstellungsdauer: 13.11.2015 – 27.01.2016
Eröffnung: Dr. Lucas Gehrmann
projektraum viktor bucher
a 1020 vienna, praterstrasse 13/1/2
t/f +43 (0) 1 212 693 0
m +43 (0) 676 561 988 0
projektraum@sil.at
www.projektraum.at
wein by cafe engländer
Ausstellung im Rahmen der VIENNA
ART WEEK 2015
"Eine Konsequenz aufklärerischen Denkens besteht
darin, für alles, was passiert, einen Grund anzunehmen. Nichts scheint grundlos
zu geschehen. Was sich zeigt, wäre demnach immer nur die Wirkung, der eine
Ursache vorausgeht. Dieser Mechanismus aus Ursache und Wirkung ist paradigmatischer
Natur: Er gilt für die Naturgesetze genauso wie für die Vorstellung von Zeit,
die in der Gegenwart immer nur die Konsequenz einer Geschichte erkennt, die ihr
als Ursache vorauseilt. Was immer geschieht, hat einen Grund – auch dann, wenn
dieser (noch) unbekannt ist. Deshalb erscheint jede Auseinandersetzung mit der
Realität als Versuch, einen Grund für diese Realität zu finden und zu
definieren. Was sich dann als Realität zeigt, gibt sich als Ergebnis zu
erkennen – wenn man so will: als Produkt. Wollte man Politik definieren, dann
wäre sie der Versuch, spezifische und ideologisch differente Gründe für die
Realität als ursächliches Produkt geltend zu machen und daraus variabel
Maßnahmen abzuleiten, die dann die Wirkung von neuen Ursachen haben und eine
andere Realität als Konsequenz und Wirkung nach sich ziehen. Wollte man Politik
definieren, dann wäre sie auch der Versuch, die Gründe für ökonomische,
soziale, kulturelle und politische Fehlfunktionen immer dem ideologisch
Differenten als Ursache für diese zuzuschreiben und sich selbst als Grund für
diejenigen Wirkungen in der Realität zu erkennen, die dem ideologischen Bild
derselben entsprechen. Was dann als Politik erscheint, ist ein Ursachenstreit –
ein Streit über den Grund und seine Wirkung. Dieses Paradigma erzeugt ein
Gefühl von Angst, wenn man nur Wirkungen zu spüren bekommt, ohne den Grund
dafür zu kennen, und ein Gefühl von Ohnmacht, wenn man Wirkungen ertragen muss,
für deren Ursachen man nicht verantwortlich ist. Will man Politik definieren,
dann ist sie auch der Versuch, manche Ursachen im Verborgenen zu halten, um
andere Begründungsfiguren in den Vordergrund zu rücken. Was dann erscheint, ist
die paradoxe Vorstellung von einem falschen Grund: die Vorstellung einer
Ursache, die keine ist und trotzdem Wirkungen verursachen soll. Auch dieser
Diskurs über die falschen Gründe ist Politik. Die Erfahrung dieser Form von
Politik produziert mitunter den Eindruck einer grundlosen Debatte, die an den
Ursachen vorbeigeht, zugleich aber am Paradigma von Ursache und Wirkung
festhält. Nun stellt sich die Frage, welche Mittel der Kritik bleiben, dieses
Paradigma zu kritisieren. Die bloße Definition anderer Ursachen und Gründe wäre
nicht genug, würde sie doch nur eine weitere Variable ins Spiel bringen und
damit den Mechanismus von Ursache und Wirkung bestätigen. Also gilt die Frage
nach einer Methode, die sich jenseits dieser Dialektik ansiedelt und die
Paradoxie dieses Mechanismus vorstellbar macht.
Ich denke, dass die Arbeiten von Canan Dagdelen
eine Form dafür gefunden haben, die Paradoxie dieses Paradigmas von Grund und
Wirkung zu erfassen. Die ersten Arbeiten, die ich von ihr gesehen habe, waren
scheinbar schwebende Gebilde im Raum: Was sich als frei schwebende Architektur
oder eine fliegende Schrift im Raum zu erkennen gab, entpuppte sich als
hängendes Gebilde, je nach Arbeit aus kugel- oder linsenförmigen Objekten
zusammengesetzt, die jedes für sich mit einer Schnur an der Decke befestigt
waren. Allein ihre Positionierung und Hängung erzeugte zusammen gesehen die
bloße Vorstellung eines Objekts – die Form eines Gebäudes oder Schriftzugs, die
realiter nicht vorhanden war. Das Diktum „Das Ganze ist mehr als die Summe
seiner Teile“ gilt hier in einem weiteren Sinn, nämlich dem, dass das Ganze
auch etwas anderes sein kann als die Summe seiner Teile. Die Form der Kugeln
oder Linsen hat mit der Form der imaginierten Gebilde nichts zu tun. Oderanders
gesagt: Die Formen ihres Materials verhalten sich indifferent zu den Formen der
imaginierten Bilder. Die Beziehung der Bestandteile zu den Gebilden im Raum ist
im Wesentlichen kontingent. Was als Gebilde erscheint, basiert allein auf der
Anordnung der materiellen Elemente, die diesen nur als Variable gegenübertritt.
Ihre Form oder Gestalt liefert nicht die Ursache für die Wirkung, die sie in
ihrer Anordnung evozieren. So nebensächlich diese Inkongruenz von Ursache und
Wirkung erscheinen mag, so wichtig ist sie für die Arbeit von Canan Dagdelen,
weil sich darin die Relation zweier divergenter Logiken manifestiert: eine
Logik, die dem imaginären Bild eines Objekts folgt, und eine Logik des
Materials, die dem einzelnen Teil und seinem indifferenten Verhältnis zum
Ganzen gehorcht. Und dieser Widerspruch zieht sich weiter – charakteristisch
ist dafür etwa Canan Dagdelens Spiel mit der Schwerkraft, man möchte sagen: ihr
Spiel mit einem Naturgesetz. Sie nützt die Schwerkraft, um ihre elementaren
Formen allein mit einer Schnur fixiert von der Decke hängen zu lassen. Durch
die Anordnung entsteht der Eindruck einer Hängeskulptur, die durch das
imaginierte Bild schwerelos im Raum zu schweben und gerade die Schwerkraft
außer Kraft zu setzen scheint. Canan Dagdelen nutzt die Schwerkraft, um ein
Bild von Schwerelosigkeit zu suggerieren. Diese frei fliegenden Architekturen
oder Schriftzüge haben buchstäblich keinen Grund. Sie können fliegen, weil die
von der Decke hängenden Elemente nach unten gezogen werden. Und es ist gerade
dieses Negieren der Schwerkraft, das sich als gewichtiger Eindruck der
scheinbar schwebenden Gebilde dem Gedächtnis und als Erfahrung einschreibt. Ein
Paradoxon, das Ursache und Wirkung offensichtlich entkoppelt und zwei
unterschiedlichen Regimen zuordnet – einem Gesetz der Schwerkraft und einem
Gesetz der Imagination, das sich der Schwerkraft entzieht. So schafft Canan
Dagdelen eine Beziehung zwischen beiden, ohne dass das eine aus dem anderen
hervorginge und ohne dass das eine die Ursache für das andere wäre. Die
Beziehung zwischen diesen beiden Regimen ist beziehungslos, oder anders: das
Paradoxon einer beziehungslosen Beziehung..."
Andreas Spiegl